Walter Orlov
Paul Gerber

Lange Zeit hielt ich Gerbers Arbeit für unseriös. Zwar wunderte ich mich, dass man auch auf solch einem Irrweg ein richtiges Ergebnis kriegen kann, aber die theoretische Begründung erschien mir immer physikalisch unverständlich… bis ich erfahren habe, dass die Lichtablenkung im Gravitationsfeld bei ihm größer ausfallen würde als bei Einstein und zwar um die Hälfte (Roseveare, N. T: Mercury's perihelion from Leverrier to Einstein. Oxford: University Press 1982). Das hat mich nachdenklich gemacht, denn ich wusste bereits, dass wirklich nah an der Sonne beobachtende Biegung der Lichtstrahlen deutlich größer ist, als von der Relativitätstheorie vorausgesagt wird, sodass 1984 Schmeidler gemittelten Zusatz von 0.3" oder + 17% berechnete und 1956 berichtete Michailov, dass in Russland im Jahr 1937 die Lichtablenkung von 2.74" oder +57 % gemessen wurde.

Gerber erkannte zwei Faktoren, die aufgrund endlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wechselwirkung das Newtonsche Gravitationsgesetz beeinflussen können.

"Erstens muss zwar im Abstände  der Massen, wo  bei wachsendem  positiv, bei abnehmendem  negativ ist, das Potential sich in der im umgekehrten Verhältnis zu  stehenden Grösse zu bilden anfangen, weil sonst nicht einzusehen wäre, wie sich dieses Verhältnis bei der Ruhe der Massen zu erfüllen vermöchte. Aber es gelangt nicht sogleich zur Wirkung an , da der es bedingende Vorgang von der anziehenden Masse ausgeht und Zeit braucht, um bis zur angezogenen Masse fortzu­schreiten. Selbstverständlich findet ein Fortschreiten der gedachten Art auch von der angezogenen zur anziehenden Masse statt... Das bei dem Abstände  von der anziehenden Masse aus­gehende Potential bethätigt sich also in  erst zu einer um  späteren Zeit, nachdem der Abstand gleich  geworden ist.

Zweitens würde das Potential wohl bei Fernwirkung unmittelbar in seinem vollen Betrage erscheinen; sind jedoch Raum und Zeit in der vorausgesetzten Art mit im Spiel, so hat es auch eine gewisse Dauer nötig, damit es, bei  angelangt, dieser Masse sich mitteile, d. h. den ihm entsprechenden Bewegungszustand von  hervorrufe... Wenn die Massen ruhen, geht die Bewegung des Potentials mit ihrer eigenen Geschwindigkeit an  vorüber; dann bemisst sich sein auf  übertragener Wert nach dem umgekehrten Verhältnis zum Abstände. Wenn die Massen aufeinander zueilen, verringert sich die Zeit der Übertragung, mithin der übertragene Potentialwert im Verhältnis der eigenen Geschwindigkeit des Potentials zu der aus ihr und der Geschwindigkeit der Massen bestehenden Summe, da das Potential in Bezug aufdiese Gesamtgeschwindigkeit hat." Paul Gerber, Die räumliche und zeitliche Ausbreitung der Gravitation. Zeitschrift für Mathematik und Physik. 43, 1898, S. 93-104

So wie ich das jetzt lese, glaube ich den Gedankengang von Paul Gerber jedoch zu verstehen.

Laut Oppenheim ist die Idee für den ersten Faktor auf Neumann zurückzuführen:

"Die Voraussetzung, von der C. Neumann ausgeht, ist die, daß das Potential der gegenseitigen Anziehung zweier Teilchen… einiger Zeit bedarf, um vonzu zu gelangen und daher dort nicht zur Zeit  , sondern etwas später ankommt, ebenso wie das zur Zeit  in  angekommene und von  ausgesandte Po­tential von dort etwas früher ausging." Oppenheim, S.: Zur Frage nach der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Gravitation. In: Annalen der Physik. 53, 1917, S. 163–168.

Dieser Faktor allein

( ist radiale Geschwindigkeit) könnte allerdings nur etwa drittel von beobachteter Periheldrehung des Merkur liefern.

Der zweite Faktor ist offensichtlich schon die Entdeckung von Gerber selbst. Anscheinend gab es sogar keine vorangehende ähnliche Hypothese. Trotzdem war er nicht allein mit seiner Idee. Im selben Jahr (1898) erschienen Lienards Potentiale bewegter Ladung, zwei Jahre später kam zum selben Gleichungen auch Wiechert. Wichtigster Faktor in ihren Gleichungen war die „Einwirkdauer“ der Potentiale. Allerdings gingen sie davon aus, dass sich elektrische und magnetische Felder in einem ruhenden Medium ausbreiten, während sich deren Quelle, d.h. die Ladung, in diesem Medium bewegt. Daraus ergibt sich größere "Einwirkdauer" in Bewegungsrichtung. Der Gerbers Beschreibung entspricht jedoch ein anderes Modell: Die Gravitationswirkung hat konstante Geschwindigkeit nur bezüglich der Masse, von der sie ausgeht. Das führt zur Umkehrung des Verhältnisses: Größere "Einwirkdauer" findet nicht bei der Annäherung der Massen statt, sondern umgekehrt bei deren Entfernung voneinander.

Für besseres Verständnis schauen wir uns die Abbildung unten an. Wie viel Zeit braucht eine Änderung des Feldes von der Massean der Massemit dem Durchmesser vorbei zu laufen?


 

Abbildung. Annäherung (links) und Entfernung (rechts) der Massen aus der Sicht der Masse.

In der Ruhe:

Bei der Annäherung:

Bei der Entfernung:

Offensichtlich gilt dasselbe für die Feldänderung der Masse bei der Masse . Mit der Berücksichtigung, dass die radiale Geschwindigkeit mit dem wachsenden Radius positiv ist, bekommen wir den Ausdruck für den zweiten Faktor:

Zusammen ergeben diese zwei Faktoren das Potential:

Gerbers Herleitung der Formel für die Periheldrehung benötigt weder relativistische Relativität noch Raum-Zeit-Kontinuum, sondern lediglich ein wenig Sorgfalt. Ich möchte hier die Grundzüge andeuten.

Gravitationspotential wird in Binomische Reihe zerlegt:

Weil hier außer der Abhängigkeit vonnoch die Abhängigkeit vonvorliegt, verwendete Gerber allgemeine Lagrangesche Bewegungsgleichung, um die Beschleunigung zu finden:

Nach einigen Rechnungen konnte Gerber zur Formel für elliptische Planetenbahn gelangen:

Hier sindreduzierte Masse,Drehimpuls, M und N Integrationskonstanten und

Jetzt wirderst durch die Ellipsenparameter ausgedruckt.


 

Abbildung. Elliptische Planetenbahn mit Gerbers Bezeichnungen der Bahnparameter.

Abbildung zeigt die Bezeichnungen der Bahnparameter, welche Paul Gerber verwendete. Hier fallen die Halbachsen der Ellipse mit den Achsen des Koordinatensystems nicht zusammen. Auch wenn sie dies anfangs täten, käme es bald wegen der Periheldrehung zur Verschiebung. Deshalb führte Gerber gleich den Winkelein. Der Vergleich mit allgemeiner Form der Bahngleichung

und entsprechende Rechnungen liefern

Um die Änderung von, also die Perihelverschiebung, zu finden, braucht mannoch von linker Seite zu identifizieren:

sind große und kleine Halbachsen der Bahn. So ergibt sich

Schließlich findet Gerber:

Die Integration liefert die Perihelverschiebung pro Umlauf:

Diese Formel erlaubte Gerber noch 1898 die Periheldrehungen der Planeten zu berechnen. Das Resultat stimmte mit den Beobachtungen überein. 18 Jahre später tauchte dieselbe Formel in Allgemeiner Relativitätstheorie auf. Gehrcke wollte darauf hinweisen und schrieb 1916:

"Einstein hat aber nicht darauf aufmerksam gemacht, daß eine andere, viel einfachere Theorie der Gravitation, diejenige von Gerber, schon vor 18 Jahren zu dem gleichen Ergebnis führte… Man könnte meinen, es läge hier ein großer Zufall vor, und Einstein sei ohne Kenntnis der Gerberschen Arbeit zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Eine solche Annahme wird dadurch erschwert, daß die Gerbersche Abhandlung sich in der bekannten Mechanik von Mach erörtert findet, und daß Einstein erst kürzlich seine genaue Bekanntschaft mit diesem Buche gelegentlich eines Nachrufes auf Mach dargelegt hat. Man mag über die Gerbersche Theorie den­ken wie man will, jedenfalls geht soviel aus ihr hervor, daß es nicht notwendig ist, relativistische Betrachtungen anzustellen, um die Gerbersche Formel für die Perihelbewegung des Merkur abzu­leiten." E. Gehrcke. Zur Kritik und Geschichte der neueren Gravitationstheorien. Annalen der Physik Volume 356, Issue 17, pages 119-124, 1916

Das hat Einstein offensichtlich sehr verärgert. So verteidigte er sich vier Jahre später:

"Herr Gehrcke will glauben machen, daß die Perihelbewegung des Merkur auch ohne Relativitätstheorie zu erklären sei. Es gibt da zwei Möglichkeiten. Entweder man erfindet besondere interplanetare Massen... Oder aber man beruft sich auf eine Arbeit von Gerber, der die richtige Formel für die Perihelbewegung des Merkur bereits vor mir angegeben hat. Aber die Fachleute sind nicht nur darüber einig, daß Gerbers Ableitung durch und durch unrichtig ist, sondern die Formel ist als Konsequenz der von Gerber an die Spitze gestellten Annahmen überhaupt nicht zu gewinnen. Herrn Gerbers Arbeit ist daher völlig wertlos, ein mißglückter und irre­parabler theoretischer Versuch. Ich konstatiere, daß die allgemeine Relativitätstheorie die erste wirkliche Erklärung für die Perihelbewegung des Merkur geliefert hat. Ich habe die Gerbersche Arbeit ursprünglich schon deshalb nicht erwähnt, weil ich sie nicht kannte, als ich meine Arbeit über die Perihelbewegung des Merkur schrieb; ich hätte aber auch keinen Anlaß gehabt, sie zu erwähnen, wenn ich von ihr Kenntnis gehabt hätte." Einstein, A.: Meine Antwort - Über die anti-relativitätstheoretische G.m b.H. In: Berliner Tageblatt. 402, 1920.

Einsteins Entschlossenheit, Gerbers Arbeit keinesfalls zu erwähnen, kann man wohl nicht als vorbildlich nennen. 1982 meinte Roseveare jedoch, dass Gerbers Theorie nie offiziell widerlegt wurde, sondern schlicht "vergessen", dabei untersuchte er angebliche Widerlegungen von den "Fachleuten" und entkräftete sie (Roseveare, N. T: Mercury's perihelion from Leverrier to Einstein. Oxford: University Press 1982).

 

 

 

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